Viertel vor 10 Uhr trudeln die ersten Spieler von Tarrasch München zur Spitzenbegegnung in der Alten Schule ein. Bald wird klar: sie wollen es wirklich wissen. Der ohnehin schon kampfstarke Stammachter der Münchner ist nochmals verstärkt, indem Tarrasch erstmals in dieser Saison IM Fabian Lipinsky sowie am 8. Brett den erfahrenen Kämpen Manfred Herich einsetzt. Dadurch rutschen wir in die für uns zuletzt ungewohnte Rolle des DWZ-Underdogs. Wie nicht anders zu erwarten wird es ein Kampf auf Biegen und Brechen.
Uli tigert in der 2. Spielstunde plötzlich von Brett zu Brett, obwohl seine Uhr läuft. Des Rätsels Lösung: er hat ausgangs der Eröffnung ein Remisangebot erhalten und möchte sich zunächst einen Überblick über die anderen Stellungen verschaffen. Nach Rücksprache mit dem Captain werden die Hände geschüttelt. Wie sich bald zeigt, hat Tarrasch ein detailliertes Drehbuch für den Wettkampf vorbereitet. Auch Bertl und Tobi erhalten frühe Remisangebote, die aber zunächst abgelehnt werden.
Die ohnehin zaghaften Aktivitätsversuche seines Gegenüber erstickt Mario als Nachziehender im Keim und erreicht bequemen Ausgleich. Bald sind die meisten Figuren getauscht und die Bauernketten am Damenflügel ineinander verzahnt. Der absehbare Friedensschluss lässt nicht lange auf sich warten.
Bertl sieht eine Bauernwalze auf seinen kurz rochierten König zurollen. Prima, denkt er sich, alles potentielle Schwächen im Endspiel. Und fängt den Angriff elastisch ab. Später muss er einen bangen Moment überstehen, nach dem unvorsichtigen 25…Db5? hätte 26.Sd7! die Partie sofort entschieden. Nach der verpassten Gelegenheit lassen beide Spieler nichts mehr anbrennen und einigen sich bald auf die Punkteteilung.
An Brett 2 spielt AlphaZero gegen AlphaZero. So jedenfalls lautet ein Kommentar in der Nachbesprechung. Toms englischer Angriff gegen das Scheveninger System artet in absurde Komplikationen aus. Tom steckt eine Figur ins Geschäft und stürzt damit seinen großmeisterlichen Gegner in tiefes Nachdenken. Zwischendurch erkennt das Elektronenhirn einen Vorteil von rund 10 Bauerneinheiten für GM Maksimenko, am Schluss aber einen ebenso großen Vorteil für Tom. Tatsächlich endet die Partie mit Remis durch Zugwiederholung. Ein packendes Duell und eine großartige Kreativleistung von Tom!
Ron bekämpft seine Entzugserscheinungen, indem er als routinierter Breakbuilder die erste Chance nutzt, um den Frame in großem Stil zu gewinnen. Sein mit 27.hxg4 angebotenes Figurenopfer hätte bei Annahme zu Dauerschach geführt. Der Gegner lehnt das Opfer jedoch unvorsichtigerweise ab, wonach Rons Kombi bilderbuchhaft bis zum Matt abschnurrt – ein wahres Kabinettstück und ein für uns zu diesem Zeitpunkt eminent wichtiger Punktgewinn!
Am Spitzenbrett serviert der junge indische IM Soham Das im Caro-Kann den unkonventionellen Damenzug 3.De2. Letztlich ist es aber Karsten, der in der Folge mit Damenmanövern kostbare Zeit verliert. Sein Gegner nutzt dies, um eine Druckstellung mit Entwicklungsvorsprung und Raumvorteil aufzubauen. Karstens Versuch, mit 20…f6? ein Nest für den König zu bauen, geht nach hinten los. Er wehrt sich noch zäh und lange, muss aber nach der Zeitkontrolle die Segel streichen.
Hat Tobi zuviel mit Bertl über Schachstrategie philosophiert? Nur so lässt sich erklären, dass er nach ruhiger aber gelungener Eröffnung seinen potentiell starken Läufer ohne Not gegen einen schwarzen Springer tauscht. Später kommt es zu einer offenen Feldschlacht, in der beide Seiten kreativ agieren, bei knapper Bedenkzeit aber nicht immer den stärksten Zug finden. Genauso unvermittelt endet das Drama, die Damen verschwinden vom Brett und im ungleichfarbigen Läuferendspiel ist das Remis unausweichlich. Angesichts des Spielverlaufs haben beide Spieler Anlass, mit dem Ergebnis gleichzeitig zufrieden und unzufrieden zu sein.
Beim Stand von 3,5:3,5 muss Christians Partie die Entscheidung bringen. Etwas frech spendiert er in der Eröffnung einen Bauern für dubiose Kompensation. Wenig später gibt sein Gegner den Bauern unter für ihn eher ungünstigen Umständen zurück. Nach einigen Tauschaktionen erreicht Christian ein Endspiel mit Turm, Läufer und Mehrbauer. Dessen Verwertung erscheint wegen der geschwächten Struktur des weißen Königsflügels, vor allem aber wegen der Verschiedenfarbigkeit der Läufer wenig realistisch. Christian macht sich unverdrossen an die Arbeit und findet mit etwas Mithilfe des Gegners tatsächlich einen Gewinnweg – ironischerweise indem er den Turmtausch und damit den Übergang in ein ungleichfarbiges Läuferendpiel erzwingt.
Gegen die bärenstarke und bis in die Haarspitzen motivierte Mannschaft von Tarrasch München haben wir uns am Ende mit 4,5:3,5 durchgesetzt und die Tabellenführung verteidigt. Eine ganz feine Teamleistung, die diszipliniert und mit großem Kämpferherz herausgespielt wurde. An diesem Tag haben wir wohl beinahe die perfekte Welle erwischt.
(cg, 20.01.2020)